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Nutzerzentrierte Evaluation technischer Entwicklungen – Entscheidender Schritt auf dem Weg zur menschzentrierten Produktion

Funktionieren technische und digitale Systeme in der Produktionspraxis nicht wie geplant, liegt das häufig an Schwierigkeiten in der Interaktion zwischen System und Nutzenden. Eine konsequente Ausrichtung der Systementwicklung auf die Anforderungen zukünftiger Nutzender kann solche Schwierigkeiten vermeiden und so Zeit und Geld für Problemanalyse und -behebung sparen. Ein zentrales Element dabei ist die nutzerzentrierte Evaluation, welche prüft, inwieweit geplante Systeme den Bedürfnissen, Erwartungen und Fähigkeiten Nutzender entsprechen. Das Fraunhofer IWU unterstützt Entwickler und Anwender bei der wissenschaftlich fundierten Bewertung von Systemen und bietet darüber hinaus weitere Leistungen zur menschzentrierten Entwicklung und dem geführten Transfer von neuen digitalen und technischen Systemen in die industrielle Praxis.

Menschzentrierte Systementwicklung: Warum überhaupt? Und wie?

Roboter, digitale Zwillinge, Werkerassistenzsysteme, Wearable Devices – Digitalisierung und Automatisierung ermöglichen vielfältige innovative Lösungen für den Produktionsbereich. Im Entwicklungsprozess der Systeme stehen zuerst vor allem technische Herausforderungen im Vordergrund. Sind diese gelöst, werden die Systeme in der Industrie implementiert und sorgen für effizientere oder agilere Prozesse, reduzierten Ressourcenverbrauch, höhere Qualität oder Sicherheit. Diese Idealvorstellung tritt jedoch nicht in jedem Fall ein. So können Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen häufig ihr volles Potential nicht entfalten, weil die in den Produktionsstätten Beschäftigten sich beispielsweise nicht trauen, den teuer angeschafften Roboter zu bedienen, mit dem neuen Assistenzsystem „fremdeln“ oder im innovativen Touchscreen zur Anlagensteuerung wichtige Informationen und Funktionen nicht finden.

Eine häufige Ursache für problematische Mensch-Technik-Interaktionen ist, dass Nutzerinnen und Nutzer mit neuen Systemen erst bei deren Implementierung in Berührung kommen. So werden sie vor vollendete Tatsachen gestellt, was die Gestaltung von Abläufen oder die Funktionalitäten der Systeme in Bezug auf die zu bewältigenden Arbeitsaufgaben betrifft. Werden dann Schwierigkeiten in der Mensch-Technik-Interaktion deutlich, sind notwendige Änderungen, wenn überhaupt, nur noch sehr zeit- und kostenintensiv umsetzbar [1]. Der Erfolg technischer Systeme hängt jedoch wesentlich davon ab, wie gut diese auf Bedürfnisse, Erwartungen und Fähigkeiten Nutzender abgestimmt sind [2].

Eine nutzerzentrierte Entwicklung technischer Systeme bietet die Möglichkeit, Anforderungen zukünftiger Nutzender rechtzeitig und vergleichsweise kostengünstig in allen Entwicklungsstufen zu berücksichtigen [1]. Der Kreislauf der nutzerzentrierten Systemgestaltung (z. B. [2], [3]) bietet dabei einen Orientierungsrahmen, der sich mit den folgenden iterativen Phasen komplementär über klassische Ablaufschemata der Systementwicklung legen lässt und alle Entwicklungsphasen durch eine menschzentrierte Perspektive bereichern kann:

  • Verstehen und Beschreiben des Nutzungskontexts
  • Spezifizieren der Nutzungsanforderungen
  • Erarbeiten von Gestaltungslösungen
  • Evaluieren der Gestaltung

Je nach Nutzungskontext und Anforderungen kann eine menschzentrierte Systementwicklung dabei gezielt auf relevante Aufgabenaspekte (z. B. Entscheiden, Überwachen) sowie kognitive Zielgrößen von Nutzenden (z. B. Situationsbewusstsein, mentaler Workload) ausgerichtet werden.

Evaluation und Bewertung der Leistungsfähigkeit ist integraler Bestandteil einer guten Systementwicklung

Ein zentrales Element der nutzerzentrierten Systementwicklung stellt die Evaluation dar, welche entwicklungsbegleitend immer wieder prüft, inwieweit ein System den Anforderungen zukünftiger Nutzender entspricht. Die Evaluationsschleifen können zentrale Fragen einer erfolgreichen Mensch-Technik-Interaktion beantworten, zum Beispiel:

  • Erfüllt das System die spezifischen Anforderungen aller relevanten Zielgruppen (z. B. von Werkerinnen und Werkern benötigte Funktionen, Qualitätsvorgaben der Geschäftsleitung)?
  • Sind angedachte Nutzende grundsätzlich gewillt, das System zu verwenden oder gibt es Akzeptanzbarrieren, Vertrauensprobleme oder andere Herausforderungen, die einer reibungslosen Einführung entgegenstehen?
  • Haben Nutzende eine adäquate Vorstellung von den Funktionen und Grenzen des Systems, sodass sie sich in der Interaktion mit dem System entsprechend verhalten können?
  • Sind Aktionen des Systems und deren Gründe für Nutzende durch gutes Feedback transparent nachvollziehbar?
  • Sind Interaktionsschnittstellen (z. B. Touchscreens, Projektionen, Eingabegeräte) für Nutzende intuitiv verständlich und bedienbar?
  • Hat das System neben den angedachten Effekten keine unbeabsichtigten Folgen (z. B. die Erhöhung des mentalen Workloads oder Stresserlebens der Nutzenden)?

Diese und weitere Fragen klären wichtige Voraussetzungen für die Bereitschaft und Befähigung zukünftiger Anwendender zur (korrekten) Nutzung technischer Systeme ab. Dabei zeigen sie konkrete Stärken und Schwächen sowie Änderungsbedarfe in verschiedenen Entwicklungsstadien auf. Zu ihrer Beantwortung kommen verschiedene Methoden der angewandten Psychologie, beispielsweise Fragebögen, Interviews, Fokusgruppen, Usability-Tests, Verhaltensbeobachtungen oder Eye Tracking, zum Einsatz. Mit der Gründung der Abteilung „Mensch in der Produktion“ erweiterte das Fraunhofer IWU 2023 sein Leistungsspektrum um diese und weitere Aspekte einer menschzentrierten Entwicklung von Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen.

Praxisbeispiel: Wie nutzergerecht ist ein Werkerführungssystem für die Matrixproduktion?

Hintergrund

Als eines der ersten Pilotprojekte führte die Abteilung eine nutzerzentrierte Evaluation im IWU-geführten Forschungsprojekt „InTeleMat“ durch, welches die Lernförderlichkeit von Matrixproduktionssystemen adressierte. Dazu wurde ein Werkerführungssystem entwickelt, welches Werkerinnen und Werker durch Montageprozesse leitet. Das System präsentiert dafür bild- und textbasierte Schritt-für-Schritt-Erklärungen auf einem Touchscreen sowie anleitende Projektionen im Arbeitsbereich (siehe Abbildung 1). Ziel war es, die Anpassungsfähigkeit Beschäftigter an sich ständig ändernde Montageabläufe in der Matrixproduktion durch Lernen am Arbeitsplatz zu stärken. Exemplarisch wurde die Werkerführung in der Produktionshalle eines sächsischen KMU implementiert, welches die Einführung einer Matrixproduktion plant.

Montagemitarbeiterin an Montagestation mit Werkerführungssystem

Abbildung 1 – Werkerführungssystem bestehend aus Touchscreen und Projektionssystem, implementiert an einer Montagestation (Foto: Franziska Hartwich, Fraunhofer IWU)

Methodisches Vorgehen

Für die nutzerzentrierte Evaluation des implementierten Systems an der Montagestation des KMU kam eine Kombination aus Beobachtung und Fragebogen-Befragung zum Einsatz. Dazu wurden neun Werkerinnen und Werker bei der Montage mit der Werkerführung beobachtet und fragebogenbasiert zu ihren Erwartungen und Erfahrungen befragt. Erfasst wurden unter anderem die Lernförderlichkeit, Usability (Gebrauchstauglichkeit) und Akzeptanz des Systems. Von den neun Teilnehmenden hatten vier bereits viel Erfahrung mit der Montageaufgabe; fünf waren noch unerfahren darin. Alle arbeiteten im Rahmen der Evaluation zum ersten Mal mit der Werkerführung. Das Vorgehen wurde durch eine fragebogenbasierte Potentialanalyse mit zwei Führungskräften des Unternehmens komplementiert, um möglichst vielseitige Perspektiven zu berücksichtigen.

Exemplarische Ergebnisse

Die Evaluationsergebnisse verdeutlichen, dass die Werkerführung prinzipiell ein geeignetes Lerninstrument für Montagearbeitsplätze darstellt und die Zielgruppe (in der Montageaufgabe unerfahrene Beschäftigte) stärker unterstützt als andere Gruppen. Jedoch sollte sie in Funktionsumfang und -ausführung noch stärker auf die Bedarfe Nutzender ausgerichtet werden, um ein volles Unterstützungspotential entfalten zu können. So brachten die Werkerinnen und Werker einen mittleren Grad an Akzeptanz für das System zum Ausdruck, was ein Weiterentwicklungspotential impliziert (siehe Abbildung 2). Dabei zeigte die Zielgruppe der unerfahrenen Beschäftigten in allen untersuchten Akzeptanzfacetten (wahrgenommene Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit des Systems, eigene Intention das System nutzen zu wollen) höhere Werte als erfahrenere Beschäftigte. Interessanterweise wurden nach der Erprobung des Systems niedrigere Akzeptanzwerte berichtet als davor. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass das System die Erwartungen der Werkerinnen und Werker im derzeitigen Stand der Implementierung noch nicht vollständig erfüllt. Diskrepanzen dieser Art können im Rahmen einer nutzerzentrierten Systementwicklung frühzeitig identifiziert und behoben werden.

Balkendiagramm zur Akzeptanz der Werkerführung

Abbildung 2 – Akzeptanz der Werkerführung vor und nach der Erprobung, berichtet von Werkerinnen und Werkern mit vs. ohne Erfahrung mit der Montageaufgabe (eigene Darstellung)

Die Angaben der Werkerinnen und Werker sowie der Führungskräfte bezüglich der Stärken und Schwächen des Systems (siehe Abbildung 3) geben Aufschluss über Gründe für dieses Ergebnismuster. Die Befragten sahen vor allem das Potential zum Anlernen unerfahrener Beschäftigter und als Erinnerungsstütze und lobten die verständliche Beschreibung der Montageschritte. Ein Manko war die fehlende Adaptivität der Schritt-für-Schritt-Anleitung an individuelle Arbeitsgeschwindigkeiten. Die feste Abfolge war für unerfahrenere Beschäftigte häufig zu schnell, während sie erfahrenere Beschäftigte eher ausbremste. Zudem wünschten sich die Befragten weitere Funktionen wie eine Fehlerprüfung oder Möglichkeiten zur manuellen Navigation innerhalb der Anleitungsschritte über den Touchscreen.

Häufigkeitsdiagramme zu Stärken und Schwächen der Werkerführung

Abbildung 3 – Stärken und Schwächen der Werkerführung, berichtet von Werkerinnen und Werkern sowie Führungskräften (eigene Darstellung)

Praktische Implikationen

Mit diesen und weiteren Ergebnissen war die Evaluation für das Projekt „InTeleMat“ ein entscheidender Schritt, um die entwickelte Werkerführung auf ihre Wirksamkeit im produktionstechnischen Feld zu prüfen und auf Basis klarer Kriterien zu bewerten. Für Mensch-Technik-Systeme in der Produktion identifizierten sie die Adaptivität an verschiedene Nutzergruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedarfen als einen entscheidenden Erfolgsfaktor. Für das evaluierte System konnten notwendige Weiterentwicklungsschritte mit Vorschlägen zur nutzenzentrierten Umsetzung an die Systementwickler zurückgemeldet werden, welche nun realisiert werden. Unter der Annahme, dass die identifizierten Schwierigkeiten behoben werden, erwartete die Geschäftsleitung des KMU einen signifikanten Nutzen der Werkerführung für wichtige Zielgrößen und Kennzahlen ihrer Produktionsprozesse (siehe Abbildung 4).

Aussagen der Geschäftsleitung  zum erwarteten Nutzen der Werkerführung

Abbildung 4 – Potentialanalyse: Erwarteter Nutzen der Werkerführung im Idealzustand, berichtet von der Geschäftsleitung (eigene Darstellung)

Menschzentrierte Systementwicklung ist Teil des Leistungsporfolios des Fraunhofer IWU

Neben der nutzerzentrierten Evaluation technischer Systeme umfasst das Forschungs- und Dienstleistungsportfolio der Abteilung „Mensch in der Produktion“ weitere zentrale Bausteine einer menschzentrierten Digitalisierung und Automatisierung von Produktionsprozessen, darunter:

  • Ganzheitliche (kognitive) Anforderungsanalyse
  • Erstellung konzeptueller Wissensmodelle und strategischer Entwicklungs-Roadmaps
  • Datenanalyse und Modellierung mit verstehbaren Algorithmen der Künstlichen Intelligenz
  • Menschengemäße Visualisierung von Informationen
  • Schnittstellengestaltung
  • Begleitung von Einführungsprozessen zur Sicherung der Akzeptanz der Nutzenden

Diese Angebote richten sich an Entwickler und Anwender. Ziel ist immer, technische Lösungen auf die Bedürfnisse, Eigenschaften und (v. a. kognitiven) Fähigkeiten Nutzender auszurichten, um nachhaltig leistungsfähige und flexible Mensch-Technik-Systeme für die Produktion zu schaffen. Als weitere Beispiele aus der Praxis sind die hybride Montage, die Erhebung und Digitalisierung von Expertenwissen für hybrides Entscheiden und die Entwicklung neuer Arbeitsformen wie das kognitive Teaming zu nennen. Hierzu wird regelmäßig in öffentlichen Vorträgen informiert, z.B. auf dem nächsten futuresax-Innovationsforum „Mensch-Maschine-Mittelstand“ 2025. Darüber hinaus können Interessierte jederzeit direkt Kontakt aufnehmen.

Literatur

[1] Ritter, F. E., Baxter, G. D., & Churchill, E. F. (2014). Foundations for Designing User-Centered Systems. London: Springer. https://doi.org/10.1007/978-1-4471-5134-08

[2] [International Organization for Standardization (2019). Ergonomics of Human-System Interaction — Part 210: Human-Centred Design for Interactive Systems (ISO 9241-210:2019). https://www.iso.org/standard/77520.html

[3] International Organization for Standardization (2019). Ergonomics of Human-System Interaction — Part 220: Processes for Enabling, Executing and Assessing Human-Centred Design Within Organizations (ISO 9241-220:2019). https://www.iso.org/standard/63462.html

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Franziska Hartwich

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